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Titel
"Kredit bei aller Welt". Die Herrnhuter Brüdergemeine und ihre Unternehmen 1895–1945


Autor(en)
Kokel, Susanne
Reihe
Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa. Economic and Social History of Modern Europe
Erschienen
Baden-Baden 2022: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
583 S.
Preis
€ 114,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Lutz, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Lässt sich die Religiosität ökonomischer Akteure aus deren Bilanzen heraus rekonstruieren? So lautet, etwas überspitzt formuliert, die zentrale Fragestellung Susanne Kokels in ihrer Analyse der Unternehmen der Herrnhuter Brüdergemeine, einer christlichen Kirche, im Zeitraum von 1895 bis 1945. Bereits der Buchtitel deutet an, dass Kokel sich intensiv mit Max Weber auseinandersetzt, ist doch „Kredit aus aller Welt“ dessen Text „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ entnommen. Doch verfügten solche Sekten über eine höhere Kreditwürdigkeit, wie Weber argumentiert? Kokel geht dieser Frage nach, indem sie die Kapitalmobilisierung von Unternehmen als nicht-intendierte Wirkung von Religion untersucht. Hierbei prüft sie, inwieweit die Herrnhuter Brüdergemeine aus ihrer Religion einen Wettbewerbsvorteil ziehen konnten.

Nur vordergründig geht es in dieser Studie um den Sonderfall einer verschwindend kleinen Gruppe in pietistischer Tradition, die in Deutschland nur einige Tausend Mitglieder zählte. Vielmehr ist diese minutiös recherchierte und dicht an den Quellen orientierte Studie in den Kontext einer sich stark verändernden Umwelt eingebettet. Politische Rahmenbedingungen berücksichtigt die Autorin ebenso wie Änderungen des Finanzrechts, des Kirchenrechts und der Marktdynamiken auf der Makro-Ebene. Die Geschichte der Herrnhuter Kreditbeziehungen wird so in eine allgemeine Wirtschaftsgeschichte vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eingebettet.

Im Zentrum steht die Finanzabteilung (ab 1919 die Finanzdirektion), die in wechselhafter institutioneller Rahmung die Herrnhuter Wirtschaftsbetriebe verwaltete. Es handelte sich hierbei um zeitweise mehrere Dutzend Unternehmen in den unterschiedlichsten Branchen (wie eine Spinnerei, eine Bank, eine Bauunternehmung) und insgesamt über 1000 Beschäftigen mit einer räumlichen Konzentration in Schlesien und Sachsen. Untersuchungsgegenstand sind alle gemeinschaftlichen Unternehmen der Brüdergemeine. Empirisch handelt es sich um eine enorm anspruchsvolle Arbeit, denn ein zentrales Archiv der Herrnhuter Unternehmen gibt es nicht. Kokel griff daher neben einer Vielzahl publizierter Quellen auf Archivbestände in Deutschland, Polen, Dänemark und den Niederlanden zurück. Dabei berücksichtigte sie sowohl die Herrnhuter Eigenüberlieferung als auch staatliche Archive und Unternehmensarchive wie beispielsweise der Deutschen Bank.

Die Ausgangsüberlegung Kokels ist, dass es den Herrnhutern im Untersuchungszeitraum auch in Zeiten starker unternehmerischer Expansion gelungen war, „für eine, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sichernde, Deckung des Kapitalbedarfs zu sorgen, ohne den Kapitalmarkt in Anspruch genommen zu haben“ (S. 31). Die Autorin fokussiert in ihrer Studie folgerichtig darauf, den besonderen Charakter der kirchlichen Struktur in den Blick zu nehmen und deren Kreditbeziehungen zu untersuchen. Zurecht betont sie, dass die ökonomischen Konsequenzen einer wie auch immer verstandenen religiösen Unternehmensführung sehr schwer analytisch zu fassen sind. Die Herrnhuter bilden hier einen besonderen Fall, denn hier wurde eine verfasste Kirche kollektiv unternehmerisch tätig, ein Phänomen, dass in der wirtschafts- und unternehmenshistorischen Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert noch weitgehend unbeachtet blieb (S. 36). Dies gilt auch für die Herrnhuter, zu denen allerdings schon umfangreiche wirtschaftshistorische Untersuchungen für das 18. Jahrhundert vorliegen.1

Methodisch leistet Kokel Pionierarbeit für die Forschung zu religiösen Wirtschaftsakteuren, in dem sie an die Diskussion um die Finanzierung von kleinen und mittleren Unternehmen anschließt (S. 48). In einer breiteren unternehmenshistorischen Perspektive ist diese Arbeit daher auch relevant für Historiker:innen, die sich mit Kreditbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen. Kokel unterscheidet hierbei systematisch zwischen Innen- und Außenfinanzierung und schließt an die auch quantifizierende wirtschaftshistorische Forschung an.2 Den zugrunde liegenden Ansatz bildet die finanzielle Agentur-Theorie als Teilbereich der neo-institutionalistischen Finanztheorie. Kokel verwendet hier ein analytisches Raster, das fünf Phasen von Kreditbeziehungen in den Blick nimmt: Screening, Reporting/Monitoring, Bonding, Commitment und Signaling.

Vertrauen und Reputation werden hierbei als zentrale Variablen verwendet und die dahinter liegenden Wertvorstellungen und Normen von Kreditwürdigkeit analysiert. Damit erweitert Kokel den theoretischen Ansatz, indem sie die zeitliche Dimension von Kreditbeziehungen und deren Wiederholbarkeit berücksichtigt. Das schließt ein Storytelling von Akteuren ein, die durch den strategischen Einsatz von Erzählungen ihre Reputation erhalten bzw. steigern können (S. 62). Kokels Studie bildet damit auch einen wichtigen Beitrag für die wirtschafts- und unternehmenshistorische Reputationsforschung unter Einschluss von Studien zum frühneuzeitlichen Kreditwesen. Hier hätte die Autorin auch an die neue Arbeit von Esther Sahle zu Quäkern anbinden können, deren Analyserahmen in eine ähnliche Richtung geht.3

Ausgehend von einem umfangreichen theoretisch-methodischen Teil führt Kokel in die Entstehungsgeschichte der Herrnhuter Brüdergemeine vor dem Untersuchungszeitraum ein. Sie erläutert deren Vergemeinschaftung im 18. Jahrhundert, die Folgen für wirtschaftliche Betätigung und insbesondere für die Finanzierung der Unternehmen. Nach einem zeitlichen Sprung stellt die Autorin die ökonomische Situation in den Jahren 1890 bis 1895 dar, als wirtschaftliche Probleme einen Reformprozess auslösten. Sehr detailliert zeichnet sie die innerkirchlichen Diskussionen nach, an deren Ende eine Neuordnung des Vermögens und seiner Verwaltung unter der Finanzabteilung stand. Dieser umfangreiche Vorlauf, der an der einen oder anderen Stelle sicherlich hätte gekürzt werden können, umfasst über 130 Seiten.

Die empirische Analyse ist stringent chronologisch mit vier übergeordneten Teilen aufgebaut: spätes Kaiserreich (1895–1913), Erster Weltkrieg (1914–1919), Weimarer Republik und frühe NS-Zeit (1920–1937) und Zweiter Weltkrieg (1938–1945). Die chronologische Struktur ist gut überlegt. Sie orientiert sich sowohl an den Rahmenbedingungen (wie der Kriegswirtschaft im Ersten und Zweiten Weltkrieg) als auch an der Herrnhuter Eigenzeit. Überdies verknüpft Kokel strukturelle Entwicklungen sehr gut mit der Agency einzelner hervorgehobener Akteure wie dem Mitglied der Finanzdirektion (ab 1926) Kurt Marx, der in der Zwischenkriegszeit eine verstärkte Rationalisierung der Betriebe initiierte. Die Kapitelstruktur ist etwas kleinteilig mit bis zu fünf Gliederungsebenen und teils sehr kurzen Abschnitten. Für das Leseverständnis helfen hingegen die Zwischenzusammenfassungen.

Innerhalb der chronologischen Abschnitte geht Kokel streng systematisch vor. Nahezu identisch strukturierte Unterkapitel behandeln jeweils die allgemeinen Entwicklungen der Unternehmensstrategie (1), die Finanzierung der Unternehmen (2), ihre ökonomische Bewertung (3), die Analyse der Finanzierungsbeziehungen getrennt in Außen- und Innenfinanzierung (4) und enden mit einem Zwischenfazit (5). Akribisch zeichnet Kokel in einer enormen Detailfülle die Entwicklung der Herrnhuter Unternehmen nach, ohne dabei übergeordnete strukturelle Entwicklungen aus dem Auge zu verlieren. Wachstum und Modernisierung der Betriebe standen bereits im Kaiserreich im Fokus der Brüdergemeinde, die zur Finanzierung der Kirche zunehmend auf die Erträge angewiesen war. Dies erforderte wiederum Investitionen und damit Kapitalzufuhr.

Einzelne Vorfälle wie Veruntreuung ließen die verantwortlichen Akteure in Kirche und Beitrieb immer wieder Vertrauensverlust seitens der Kapitalgeber befürchten, doch Kokel zufolge blieb Reputation ein wichtiger stabilisierender Faktor in den Kreditbeziehungen. Damit verschaffte sich die Brüdergemeine „einen sehr kostengünstigen Zugang zum Kapital und damit einen klaren Wettbewerbsvorteil“ (S. 211). Im Untersuchungszeitraum gab es dennoch mehrere Krisen, die eine Neuordnung des Geschäfts im Verhältnis zwischen Kirche und Betriebsverwaltung auslösten, in deren Folge neue Kirchenordnungen institutionalisiert wurden. So wurde nach der Kirchenordnung von 1919 mit dem Rechnungsausschuss ein Gremium ökonomischer Experten gebildet, der für die Aufsicht der Finanzdirektion verantwortlich war. Professionalisierung und Rationalisierung bildeten einen Schwerpunkt der wirtschaftlichen Unternehmen der Brüdergemeine in der Zwischenkriegszeit.

In der Unternehmensfinanzierung dominierte vor 1914 Depositen die Kapitalzufuhr. Während des Ersten Weltkriegs gelang es infolge steigender Gewinne u.a. durch die Umstellung auf die Kriegswirtschaft, eine weitgehende Selbstfinanzierung zu erreichen. Mitte der 1930er-Jahre kam es erneut zu einer strukturellen Neuordnung, als die Finanzdirektion eine Finanzierung über Depositen vollständig einstellte. Die Ablösung des Depositenbestands von 6 Millionen Reichsmark bedeutete in den folgenden Jahren eine große Herausforderung, die aber bewältigt wurde. 1923 machten Depositen noch rund 50 Prozent der externen Finanzierung aus, im Jahr 1937 war dieser Anteil auf 13 Prozent gesunken (S. 335). Kokel zeigt, wie stark die Herrnhuter bei der zunehmenden Finanzierung über Bankkredite von Reputation und Vertrauensvorschuss profitieren konnten. Bankkredite waren bis 1932 vollständig „Blankokredite“ (S. 340) z.B. der Disconto-Filiale in Görlitz, die keine Sicherheiten erforderten.

Detailliert zeichnet Kokel dann die veränderten Rahmenbedingungen in der NS-Zeit nach, die durch veränderte Kirchen- und Steuergesetze sowie Körperschaftsrecht und politischen Druck die Herrnhuter Unternehmen unmittelbar betraf. Die Autorin zeigt für diesen Zeitraum, wie stark die Brüdergemeine ein storytelling strategisch einsetzte, um die eigene wirtschaftliche Position zu wahren bzw. auszubauen. Während des Zweiten Weltkriegs verloren Bankenkredite dann an Bedeutung in der Außenfinanzierung und wie bereits im Ersten Weltkrieg nahm die Selbstfinanzierung zu, ermöglicht durch steigende Umsätze und Gewinne, denn auch die Herrnhuter Betriebe profitierten von der Kriegswirtschaft. Dieser letzte chronologische Abschnitt endet etwas abrupt mit dem Kriegsende und der Zweiteilung der Brüdergemeine in Ost (Herrnhut) und West (Bad Boll), die ihre Geschichte in der Nachkriegszeit entscheidend prägen sollte. Ein kurzer Ausblick mit weitergehenden Forschungsperspektiven hätte diesen Teil noch stärker abgerundet.

Das Schlusskapitel fasst übersichtlich die zentralen Befunde der Analyse zusammen. Kokel betont einen allgemeinen Trend zur Finanzierung durch Bankkredite und die Bedeutung von Reputation. Für den Nexus von Religion und Wirtschaft bedeutsam ist außerdem der Befund, dass die kirchliche Trägerschaft den Herrnhuter Betrieben Wettbewerbsvorteile verschaffte. Gleichzeitig wurde die ökonomische Betriebsamkeit der Brüdergemeine zunehmend einer Selbstkritik unterzogen und die Legitimität des kirchlichen Unternehmertums infrage gestellt. Wie Kokel abschließend feststellt, war das Verhältnis von Religion und Wirtschaft im Falle der Herrnhuter Brüdergemeine nicht statisch, sondern ein dynamischer Aushandlungsprozess, in den sowohl theologische als auch „pragmatische“ (S. 535) Überlegungen einflossen.

Insgesamt handelt es sich bei „Kredit bei aller Welt“ um eine theoretisch reflektierte, empirisch überaus gesättigte und methodisch innovative Studie, die den Zusammenhang von Religion und Wirtschaft im Kontext einer modernen Ökonomie klar aufzeigt und überdies Einblicke in die Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen bietet. Ergänzt wird das Buch durch zahlreiche Tabellen mit auch quantitativen Angaben zu den Herrnhuter Unternehmen sowie durch hilfreiche Organigramme zur Kirchen- bzw. Wirtschaftsstruktur der Brüdergemeine. Das Buch ist damit trotz des bedauerlich hohen Kaufpreises nicht nur der Forschung zur Herrnhuter Brüdergemeine und der religionsökonomischen Diskussion nachdrücklich zu empfehlen, sondern auch einem wirtschaftshistorischen Publikum, das sich mit Kredit und Finanzierungsmöglichkeiten von Unternehmen beschäftigt.

Anmerkungen:
1 Thomas Dorfner, Von „bösen Sektierern“ zu „fleißigen Fabrikanten“. Zum Wahrnehmungswandel der Herrnhuter Brüdergemeine im Kontext kameralistischer Peuplierungspolitik (ca. 1750–1800), in: Zeitschrift für historische Forschung 45 (2018), S. 283–313.
2 Joerg Baten / Rainer Schulz, Making profits in wartime: corporate profits, inequality, and GDP in Germany during the First World War, in: Economic History Review 58 (2005), S. 34–56; Mark Spoerer, Von Scheingewinnen zum Rüstungsboom. Die Eigenkapitalrentabilität der deutschen Industrieaktiengesellschaften 1925–1941, Stuttgart 1996.
3 Esther Sahle, Quakers in the British Atlantic World, c. 1660–1800, Woodbridge 2021.

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